
Das Montessori-Phänomen: die "Polarisation der Aufmerksamkeit"
Ein von Montessori erkanntes Phänomen lag einer Beobachtung zugrunde, in der ein dreijähriges Kind so intensiv und konzentriert mit einem Material (Einsatzzylinder) arbeitete, daß es sich auch durch absichtliches Stören nicht unterbrechen ließ und 44-mal eine einzige Übung wiederholte (Kramer ). Dieses Phänomen, in welchem sich das Kind mit seiner Aufmerksamkeit ganz einer Sache hingeben kann, wiederholbar zu machen und seine psychisch-physischen Faktoren sowie die pädagogischen Bedingungen zu erforschen, wurde von da an Montessoris Lebensaufgabe. Ihr anthropologisch-pädagogisches Verständnis ging von der Frage aus, wie aus einem „Naturgeschöpf“ durch die „Polarisation der Aufmerksamkeit" (Montessori) und der damit verbundenen „Sammlung und Stille“ ein "Vernunftgeschöpf“ wird.
Montessori geht von der Wirksamkeit einer inneren Führung des Kindes aus, nach der es seinen eigenen Weg intuitiv erkennen kann und lernen soll, auf den "Ruf des Herzens und der Dinge" (Montessori, 1969) zu hören, damit es nicht "der Außenwelt verfalle“ (Helming 1977). Das heißt, das Kind verfolgt von sich aus spontan handelnd seine Interessen und sucht die Dinge, die seine Selbstentfaltung fördern. Es lebt in "Einheit“ (Montessori) mit den Dingen und Menschen seiner Welt, wie vor der Geburt in der Einheit mit dem Mutterleib. Um diese Verbundenheit zur Welt ermöglichen zu können, bedarf es seitens des Erwachsenen einer Ruhe und eines "Loslassen seiner bisherigen Vorstellungen" und daraus resultierenden Bevormundung des Kindes. Montessori postuliert deshalb die Erziehung zur Freiheit des Kindes und für die aktive Entwicklung seiner 'Personalität' unter Berücksichtigung seiner Eigenheiten (vgl. Montessori).
Die Entwicklung des Kindes
Nach Montessoris Auffassung, geht das "ganze unbewußte Streben" des Kindes dahin, sich durch Loslösen vom Erwachsenen (Montessori1988) und durch Selbsttätigkeit zur freien Persönlichkeit in seiner Welt zu entwickeln. Von Geburt an ist, nach Montessori, der Säugling zur Äußerung seines Willens in der Lage. Er gibt seinem Streben Ausdruck, an der Brust zu trinken oder die Flasche zu verlangen, wenn er Hunger hat und nicht primär, wenn die Mutter ihn füttern will. Richtet sich die Mutter in dieser ersten Phase der Willensäußerung akzeptierend nach dem Kind, kommt es zu einer Übereinstimmung zwischen Kind und Mutter, die eine freie Entfaltung des Kindes ermöglicht. Eine Unterdrückung des Willens des Kindes, kann einen Machtkampf (z. B. Mutter zwingt das Kind zum Essen, und das Kind antwortet mit Erbrechen) zur Folge haben. Im Beachten der Übereinstimmung sieht Montessori ein notwendiges Gleichgewicht in der Ungleichheit zwischen Kind und Erwachsenem, da die Bedürfnisse zum Leben dieser beiden Wesen völlig unterschiedlich sind. Das Kind ist von der Hilfe des Erwachsenen abhängig, nicht der Erwachsene vom Kind. Die Freiheit des Kindes schaffen wir, so lehrtMontessori, wenn wir "vom Kinde her" denken und auf eine "Unterdrückung" der Aktivitäten und Bedürfnisse des kleinen Kindes durch Machtausübung als Erwachsenen bewusst verzichten.
Diesen Gedanken erklärt Montessori mit der physischen Entwicklung
Wir sehen klar die Abschnitte der Befreiung des Kindes vom Erwachsenen: die Zähne geben ihm die Möglichkeit, sich unabhängig von der Mutter ernähren zu können, das Laufen bedeutet, ohne Hilfe des Erwachsenen sich fortbewegen zu können, und das Sprechen ist der Anfang, sich mitteilen zu können und nicht mehr von der Auslegung seiner Wünsche durch den Erwachsenen abhängig zu sein. (Montessori1988, S. 9)
Schon das Baby steht vor der Aufgabe, bei der Beobachtung der Außenwelt Bilder zu sammeln, die eine erste Kenntnis der Welt bedeuten. Es besitzt eine hohe Konzentrationsfähigkeit und ein ausgeprägtes "Gedächtnis der Bewegungen", mit dem es sich die Handlungen merkt und so auch die Worte versteht. Das Kind versteht von klein an und nutzt sein Wissen für die späteren Handlungen des täglichen Lebens (z. B. Waschen, Zähneputzen etc.). Diese Arbeit, die im Werden des Kindes auf einer nach Montessori psychisch-geistigen Ebene stattfindet, verdient unsere Achtung und benötigt die Vorgaben unserer individuellen Lebensweise und der Dinge und Menschen als eine"Hilfe zum Leben" (Montessori). Als würde das Kind sagen: "Hilf mir es allein zu tun" (Montessori)
Das Kind benötigt Handlungsspielräume. Denn schon seine nächste Äußerung vollführt das Baby mit der 'Hand', es ergreift die Dinge, die ihm zur Hand sind, derer es sich bemächtigen kann. Es ergreift z. B. bei Tisch den Löffel und will ihn selbst zum Mund führen. Denn nur mit Hilfe dieser "Selbstbestimmung" (Montessori 1972, S. 66) kann das Kind seine Mangellage, sein psychisches Angewiesensein, überwinden. Montessori lehrt über die Schritte der Aktivität des Kindes:
Das, was im Anfang nur ein vitaler Impuls war, wird Handlung des Willens; zuerst handelt das Kind instinktiv, dann handelt es bewußt und freiwillig, und das ist ein "Erwachen des Geistes" (vgl. Montessori 1972, S. 228).
Im Greifen, Sich-auf-richten und Laufen, bemächtigt es sich die Welt, macht sich das Kind ein Bild von der Welt, es bildet sich selbst mit der Welt, in der es lebt. Für die psychische Entwicklung hin zu dem Ziel des Erwachen des Geistes, sieht Montessori folgende Bedingungen als bedeutsam an:
(1.) Die Entwicklung des Kindes ist ein innerer, aus sich selbst aufbauender und aktiver Prozeß des Kindes, angetrieben von einer nicht festgelegten Lebensenergie, die Montessori "Hormé" nennt. Diese Kraft ist auf eine das Kind umgebende Kultur gerichtet, aus der es das geistige Material für den Aufbau der Persönlichkeit entnimmt, um die Grundfertigkeiten des Menschen wie Sprache, Bewegung, Sittlichkeit, Intelligenz zu entwickeln. Diese Hormé enthält also weltoffene und entwickelbare "Potentialitäten" (a. a. O., S. 73) für die Entwicklung des Menschen.
(2.)
Die biophysischen Grundlagen dieser Potentialitäten nennt Montessori "Nebule" (ebd.) mit der Fähigkeit, Muster aus der Umwelt zu absorbieren, wie z. B. Sprache, die zu Bestandteilen der Psyche umgewandelt wird. So produzieren die Nebule für die verschiedenen Funktionen des Menschen eine 'Anpassung' des Kindes an die umgebende Kultur. Der Mensch hat also nach Montessori nicht ererbte Instinkte, sondern das "Vermögen schneller Anpassung, das auf psychischem Gebiet die Vererbung ersetzt" (ebd.). Das Kind kann sich also nur "auf Kosten der Umgebung" entfalten und ist daher auch auf Erziehung, das heißt, auf kultur- und entwicklungsgemäße Bildungsangebote angewiesen (vgl. Montessori 1966, S. 91). Vor diesem Hintergrund ist die Gestaltung der Umgebung in der Welt des Kindes ein Bereich, der mit Sorgfalt in Offenheit dem Kinde überlassen werden muß.
(3.) Durch die Kraft der "Mneme", eines "unbewußte(n) vitalen Gedächtnisses" (ebd.) werden Inhalte der Kultur festgehalten und zu einem "Teil der Psyche" (a. a. O., S. 84). Das Kind merkt sich, solange es die Worte sinngemäß noch nicht verstehen kann, die Bewegungen und Handlungen der Menschen, die zu einer bestimmten Tätigkeit gehören. Es erinnert auf diese Weise seine Kultur als eine zu ihm gehörige.
(4.) Nach der Geburt werden die Nebule in sogenannten "sensiblen Perioden"(a. a. O., S. 83) wirksam, besonders intensiv in der Phase des "psychischen Embryos" (a. a. O., S. 82) zwischen 0 und 3 Jahren, in der das Kind viele Fähigkeiten entwickelt. Es sind Entwicklungsabschnitte intensiver Lernbereitschaft etwa für Sprache, Feinmotorik und Intelligenz. Diese verschiedenen Sensivitäten treten in phasenhafter Rhythmik und Stufigkeit von 0-6, auf. Montessori unterteilt ihren Erziehungsplan von der Geburt bis zum 7. Lebensjahr in drei Abschnitte, weil in dieser ersten so bedeutsamen Periode sich "viele Umwandlungen vollziehen": a) Die ersten zwei Lebensjahre, b) von 3 bis 5 Jahren, c) das 6. und 7. Jahr, wo die Entwicklung einen vorläufigen Abschluß erreicht (a. a. O., S. 27). Montessori begreift die Lebensphasen des Kindes in ihrem ganzheitlichen Charakter als ein Streben nach Einheit, zunächst mit sich und der Mutter, dann mit sich und der Welt. Demnach stellt "der geistige Organismus (...) eine dynamische Einheit" dar, "die ihre Struktur durch aktive Erfahrungen aus der Umwelt wandelt und von einer Energie geleitet wird" (vgl. Montessori 1972, S. 74).
(5.) Als eine besondere, aber unbewußte Geistesform kennzeichnet Montessori den "absorbierenden Geist" (Montessori 1966, S. 83) des Kindes, der ohne Kritik, Wertmaßstäbe oder Unterscheidung von gut und böse, richtig und falsch usw. alles aus der Kultur aufzunehmen vermag, um die Anpassung des Kindes in irgendeiner Zivilisation zu einer beliebigen Epoche zu ermöglichen. Somit ist dieser absorbierende Geist nicht nur eine sichere Anpassungshilfe, sondern für das Kind gemäß der Tiefenpsychologie ein erhebliches Risiko für eine "Normalisation" als einer natürlichen, ungestörten und gesunden seelischen Entwicklung, speziell hinsichtlich des Erwerbs mitmenschlicher Fähigkeiten und mentaler Einstellungen. Die Gefährdung der gesunden Entwicklung des Kindes liegt nach Montessoris Beobachtungen in der Einflußnahme der Außenwelt. Die Erwachsenen sind auf völlig andere Bedürfnisse ausgerichtet und wissen nicht von der Notwendigkeit der inneren Sammlung eines in sich ruhenden Geistes des Kleinkindes, und so droht die natürliche Entwicklung des Kindes gestört oder unterdrückt zu werden. Das Kind wird in seinen spontanen Aktivitäten vom Erwachsenen nicht verstanden.
Das Zusammenwirken dieser soeben erörterten anthropogenen Entwicklungsfaktoren sind nach Montessori nicht zufällig, sondern nach einem "inneren Bauplan" (Montessori 1966, S. 29) so vorgegeben, daß das Kind in seinem Tun und in seinen Werken sich selbst erforscht und sich mit der Umwelt in Beziehung setzt. Es erweitert in seiner stetigen Aufmerksamkeit seine Persönlichkeit und wird "Herr seiner selbst" (Montessori 1976, S. 103). Das heißt, es entsteht jenes charakteristische Phänomen des "Gehorsams", es kann seine Erwerbungen entsprechend des Wunsches einer anderen Person "lenken", weil es seine Handlungen "beherrscht" (ebd.).
Diese Normalisation erreicht das Kind, indem es seine Aufmerksamkeit selbst regulieren kann und auf eine Tätigkeit polarisiert (vgl. Montessori 1988, S. 25 u. Montessori 1972, S. 185-185). Die Möglichkeit der Fehlerkontrolle in der Struktur des Materials ermöglicht es dem Kind, sich selbst zu bilden und die Folgen seiner Handlungen zu begreifen. In dieser dialogischen Tätigkeit ist das Kind von sich aus bereit, Änderungen vorzunehmen, und zudem daran interessiert, den Weg zum Ziel auszuprobieren. Dabei ist das Kind auf den Weg konzentriert und nicht auf das Ziel der Arbeit. Die Übungen und Wiederholungen dienen dem Kind nicht allein nur zur Perfektion seines Handelns zu gelangen, sondern bringen es, in dem es sich der Sache ganz hingibt, durch meditatives Begreifen, zu sich selbst.
Das Kind wählt seine Entwicklungstätigkeiten und ist festgehalten und gelenkt durch sein Interesse z. B. für die Abstufung der Farben mit den Farbtäfelchen oder das Schuheputzen. Die ausgewählte Tätigkeit leitet das Kind indirekt zu der Erkenntnis, ein Ding und seine Eigenschaften vom anderen zu unterscheiden, z. B. wählt es die Farbe der Schuhcreme die zum Schuh paßt; es denkt darüber nach, wo es die Farben der Farbtäfelchen finden und zuordnen kann; und kann sich dabei selbst korrigieren. Diese neu gewonnenen 'Erwerbungen' sind sowohl eine soziale Leistung des Kindes in der Gemeinschaft als auch Antrieb und Ursache seiner geistigen Reife (vgl. Montessori 1976, 185ff.). Die Aneignung der Fähigkeit z.B. Schuhe zu putzen und dies mit sorgfältiger Hingabe zu tun, beinhaltet in der Wirklichkeit seiner eigenen Person Sorge zu tragen. Normalisieren bedeutet für Montessori, daß Kinder in der Wirklichkeit einen Sinn für ihre Handlungen erkennen und sie im Mit-tun ihren Platz in der Gemeinschaft einnehmen, sich selbst als ein Teil der Gemeinschaft verstehen.
Das Prinzip der Selbsterziehung
Erziehung – damit meint Montessori jegliche "Behandlung" (Montessori 1928, S. 2) des Kindes – hat die Bedeutung, der psychischen Entwicklung des Kindes von Geburt an zu helfen, es vor schädlichen Einwirkungen aus der Umwelt zu schützen und für geordnete Anreize zu sorgen. Denn das Kind vollbringt die Arbeit, ein Mensch mit allen Fähigkeiten zu werden nach seinen eigenen Gesetzen, auf eine natürliche Weise selbst (vgl. Montessori 1988, S. 8), weshalb die Freiheit der Wahl der Tätigkeit an Bedeutung gewinnt. Entgegen der Vorstellung des Erwachsenen bezeichnet Montessori als Hilfe für das Kind nicht, daß er die Handlungen für das Kind ausführen solle. Es ist die Aufgabe des Erwachsenen die Welt für das Kind so zu gestalten, daß es sich selbst (allein) und ungestört von den Erwachsenen der Welt hingeben und diese handelnd erfahren kann. Das heißt, die Kinder wollen selbsttätig wirken, indem sie die Wirklichkeit selbst erobern. Sie wollen z. B. schwere Taschen tragen beim Einkauf, sich im Gleichgewicht üben durch Hippeln über dem Kantstein, den Saft selber in Gläser füllen und probieren, einen Schlüssel ins Schloß zu stecken und die Tür aufzuschließen. Sie möchten ihrem Bewegungsdrang zu jederzeit nachkommen, indem sie klettern, hopsen und mit dem Ball spielen. Sie möchten für sich sorgen, indem sie sich selbst waschen und anziehen und die Zähne putzen. Sie bereiten selbst Mahlzeiten zu und helfen bei allen Tätigkeiten zum Erhalt des Lebens mit. Sie orientieren sich auf diese Weise mit Freude an ihrer Umgebung und drücken ihr Kind-sein mit Lebensfreude in der Wirklichkeit aus. Dazu benötigt das Kind die Freiheit der Wahl seiner Tätigkeit und die Freiheit, einmal getroffene Entscheidungen überprüfen und neu treffen zu können. Es muß sozusagen auf Probe handeln und eigene Schlüsse aus seinen Handlungen ziehen dürfen. Montessori setzte diese Erkenntnis in ihrer Pädagogik dadurch um, daß sie die Fehlerkontrolle (vgl. Montessori 1988, S.14-15) in die Struktur aller vorbereiteten Materialien einbezog und dabei dem Ordnungssinn des Kindes vertraute:
Da das Kind nicht nur den Impuls hat zu handeln, sondern auch sich zu vervollkommnen, vertrauen wir ihm, geleitet durch die Fehlerkontrolle seiner Umgebung, die folgerichtige Vervollkommnung seiner Handlungen an" (ebd.).
Das Kind ist von Geburt an als ein eigenständiges Wesen in der Welt und strebt danach, durch die Bewegung von Aktivität und innerer Sammlung bei der Konzentration seinen inneren Aufbau in periodischem Rhythmus zu vervollständigen. Periodisch ist der Rhythmus deshalb, weil es einen stetigen Wechsel von der Aktivität zur inneren Sammlung, zur Aktivität und wieder zur Sammlung vollzieht. So arbeitet das Kind während es seine Umwelt wahrnimmt und absorbiert aktiv an der "Bildung des ganzen Menschen".
Die meisten bereits erlernten Fähigkeiten der Kinder sind für den Erwachsenen nicht sofort sichtbar, sondern bleiben solange das 'Geheimnis' des Kindes, bis sie im Alltagsleben, der Wirklichkeit des Kindes, von ihm in Anspruch genommen werden und auf diese Weise in den Ausdruck kommen. So folgert Montessori, daß es keiner Erziehung im traditionellen Sinne bedarf, vielmehr müsse der Weg freigemacht werden für die Selbsterziehung des Kindes. Es geht Montessori ausschließlich darum, daß das Kind vom Erwachsenen "richtig verstanden werden muß" (a. a. O., S. 17). Das heißt, die Erwachsenen, seien es Eltern, Erzieherinnen oder Lehrerinnen, stehen vor einer völlig anderen Aufgabe, als es bisher in der Erziehung üblich war: Sie sollen sich und die Einstellung zur Erziehung ändern und diese dem Kind an-vertrauen.
Mit diesen Aspekten der Selbsterziehung als Selbstvervollkommnung der Persönlichkeit wird über eine einseitige Auffassung, diese sei ausschließlich zum Wohle des Individuums, hinausgegangen. Die Selbsterziehung fördert fast unerkannt ein soziales Miteinander. Es ist in der konkreten Arbeit in Kinderhaus und Schule faszinierend zu beobachten, wie eine partnerschaftliche Zusammenarbeit stattfindet, denn Freiheit und Disziplin sind zwei Seiten einer Medaille. Die Freiheit des einen bedingt die Disziplin des anderen Kindes. Montessori spricht in diesem Zusammenhang von den Übungen des sozialen Verhaltens.
Die Übungen zum sozialen Verhalten, z. B. aufeinander Rücksicht nehmen, werden indirekt durch die Altersmischung der Kinder und das einmalige Vorhandensein der Entwicklungsmaterialien angeregt. Das gemeinsame Interesse der Kinder ist die Bildung ihrer Persönlichkeit und der Intelligenz, die zur Unabhängigkeit führt. Ein 'intelligentes' Kind verfügt nicht nur über die kognitiven und abstrakten Denkleistungen die es vollzieht, wenn es konzentriert mit Bildungsmitteln in Berührung kommt. Ein intelligentes Kind versteht sich besonders gut darin, die Dinge und seine Sachverhalte zu unterscheiden, Wichtiges vom Unwichtigen zu trennen und somit auch intelligent in seiner Mitmenschlichkeit anderen Kindern gegenüber zu handeln. Es kann immer hilfsbereit und gefestigt anderen zur Seite stehen, weil es sich auskennt und unterscheiden kann, welche Handlungen in einer Situation gerade nötig sind.
Hierzu eine kurze beobachtete Situation aus dem Kinderhaus als ein Beispiel für die Selbstverständlichkeit von sozialem Handeln bei Kindern im Alter zwischen fünf und sechs Jahren:
Einem Kind ist gerade eine mit Wasser gefüllte Vase aus der Hand gefallen, und das ganze Wasser ergießt sich zwischen den Scherben und den Blumenstielen. Nach einer kurzen Stille(!) eilen sofort fünf Kinder herbei und entscheiden, was gemeinsam zu tun ist. Das eine Kind beginnt spontan und sorgfältig die Stiele aufzulesen, um die Blumen in eine andere Vase, die ein weiteres Kind inzwischen holt, zu stellen. Ein weiteres Kind besorgt das Aufwischtuch, während bereits das erste Kind, dem das Mißgeschick passiert ist, dabei ist, vorsichtig die Scherben auf ein Tablett zu legen, in der Hoffnung, ihre ursprüngliche Form ließe sich wiederherstellen. Dazu kommen noch zwei Kinder, die sich schützend so postieren, daß andere nicht in die Gefahrenzone laufen. Die Kinder bringen alles wieder in Ordnung und regeln die ganze Situation miteinander, ohne die Hilfe der Lehrerin in Anspruch zu nehmen. Sie sind abschließend fröhlich gestimmt, "die Sache erledigt" zu haben, lediglich eine Dreijährige mit piepsiger Stimme klagt: "Die arme Vase." Für dieses Bedauern haben die Kinder eine weitere Lösung, denn eine der "Helferinnen" beruhigt die Kleine und stellt fest, daß Vasen gar nicht fühlen können (woraufhin eine kleine Diskussion darüber entfacht, wer oder was fühlen kann).
Das Handeln dieser Gruppe von Kindern ist von der Lehrerin nicht mißverstanden oder sogleich als Störung beurteilt worden, noch wurden die Aktivitäten der Kinder moralisiert oder unterbrochen. Vielleicht hat die Lehrerin nicht einmal mitbekommen was passiert ist, weil sie sich in einer wichtigen Tätigkeit nicht 'ablenken' ließ. Auch wissen diese Kinder die 'Klage' um den Gegenstand realistisch einzuschätzen. Sie leben in der Wirklichkeit. In dieser Situation ist deutlich erkennbar, wie die Kinder sich selbst regulieren. Montessori überläßt die Übungen zum sozialen Handeln den Kindern selbst, da die Altersmischung das einzelne Kind indirekt anspricht, aus der Beobachtung heraus zu lernen, im Handeln auszuprobieren und dann die Wirklichkeit zu 'erkennen'. Die Montessori-Pädagogik ermöglicht Kindern die Welt kennenzulernen wie sie ist.
Mit zunehmendem Lebensalter wächst – besonders beim Jugendlichen – der Anteil aktiver, selbsterzieherischer Handlungsweisen. Zugleich erhöht sich beim Kind die positive Einstellung zur Selbsterziehung. Die Eigenständigkeit wird durch Selbstbestätigung erweitert und das Bedürfnis zur persönlichen Selbstvervollkommnung wird inhaltlich präziser, d.h. das zu erreichende Ziel wird der Eigenart des Jugendlichen angepaßt. So nimmt nach der direkten Minderung der pädagogischen Lenkung auch die indirekte Modellfunktion des Erwachsenen stetig ab (vgl. Clauß 1976, S. 468). Das bedeutet z. B., daß auch das eigenständige Denken und das Vollziehen von Schlußfolgerungen selbständig vom älteren Kind vorgenommen wird, indem bisher gültige Regeln abgeändert werden, weil es die Situation erfordert. Der Austausch darüber mit dem zuständigen Erwachsenen wird fast beiläufig und erst im Nachhinein gesucht. So verläuft der Entwicklungsweg mit der Selbsterziehung als ein autonomer, permanent wirksamer Prozeß. Ideale, Gesinnungen, Leitbildvorstellungen und Gewissensinhalte wirken in Form von Orientierungs- und Übungsmerkmalen von außen regulierend (ebd.). Das heißt, bezüglich moralischer gesellschaftlicher Ansätze werden nun bewußt eigene Einstellungen und Lebensweisen hervorgebracht und überprüft. Die Kinder handeln selbstbewußt und voll Selbstvertrauen, im Besonderen in Situationen, in denen sie Verantwortung für andere übernommen haben.
Im Anschluß an Alfred Adler beschreibt Montessori, daß die Kinder, die in diesem Offenheitsbereich der vorbereiteten Umgebung arbeiten, sich handelnd erfahrend, ihre Schüchternheit, ihre Hemmungen und ihren Geiz ablegen. Das, was sie sich aus Mangel an Mut – und aus Gefühlen ohne Macht zu sein – angeeignet haben, sind sie bereit aufzugeben. Es vollzieht sich in ihnen eine Wandlung:
Die Erscheinung, die wir Bekehrung nannten, ist (...) eine Eigentümlichkeit des Kindesalters. Es handelt sich dabei um eine rasche Änderung, die manchmal von einem Augenblick zum anderen eintritt und der immer dieselbe Ursache zugrunde liegt. Es ließe sich kein einziges Beispiel von Bekehrung anführen, das nicht zusammenhinge mit der Konzentration der Aktivität auf eine interessante Arbeit. Und es sind die verschiedensten Bekehrungen, die auf diese Art zustande kommen: ob nun Erregte sich beruhigen oder Unterdrückte sich wieder aufrichten, immer geschieht dies auf dem selben Weg der Arbeit und der Disziplin, und darauf folgt dann der spontane Fortschritt, getragen von einer inneren Kraft, die zum Vorschein kommt, sobald sie ein Ausfallstor gefunden hat." (Montessori 1996, S. 151)
Wie diese innere Kraft der natürlichen Entwicklung trägt und welche Kennzeichen sie zeigt, wird im folgenden am Beispiel der Einführung eines Sinnesmaterial – dem 'Rosa Turm' deutlich. Hier ist darauf hinzuweisen, daß alle Sinnesmaterialien im Kinderhaus den Kindern von der Lehrerin einmal demonstriert werden, weiterführende Übungen lernen jüngere Kinder durch Beobachtung der älteren allein. Mit der Altersmischung der Kinder in der Gruppe ist beabsichtigt, daß die älteren Kinder die jüngeren, von sich aus‘ anleiten.
Der Rosa Turm' besteht aus zehn rosa Massivholzkuben, die sich in der Größe dreidimensional von einem bis zu zehn Kubikzentimetern verändern. Bei der Demonstration ordnet die Lehrerin, in langsamer Folge, alle Teile nach ihrer Größe auf dem Teppichboden, beginnend mit dem größten – und somit auch schwersten – Kubus. Die Auswahl des jeweils nächsten Kubus wird visuell für das beobachtende Kind offensichtlich; es ist immer der jeweils größte der verbleibenden Kuben. So wird einer auf den anderen folgend aufeinander gebracht, daß an zwei Seiten die Kanten der einzelnen Kuben lateral eine gerade Linie ergeben. An dieser Linie entlang führt die Lehrerin prüfend und korrigierend ihre Hand, sobald sie den nächsten Kubus aufgesetzt hat. Die Lehrerin kennzeichnet mit der Hand diese Fläche, die seitlich abnehmend höher wird und mit dem kleinsten Kubus endet. Dieser Kleinste ist es, der auf den gegenüberliegenden Seiten die jeweils dort entstandenen Stufen mit seiner Größe von 1 ccm genau ausfüllt. In seiner Funktion als Fehlerkontrolle wird dieser kleinste Kubus zu dem wichtigsten Teil des gesamten "Rosa Turm" und weist damit indirekt auf die Wichtigkeit jedes am Ganzen beteiligten Details als Fehlerkontrolle hin (vgl. Montessori 1966, S. 49).
Während die Lehrerin in langsamen und bewußt in einzelne Schritte getrennten Handlungen die Einführung in das Material nonverbal demonstriert, beobachtet das vernehmende Kind bereits eine aus der Struktur des Materials und der Handlungsfolge ansprechende Aufgabenstellung. Es ist emotional beteiligt. Mit Spannung beobachtet es weniger die Person, vielmehr konzentriert es sich auf ihre Handlungen. Die Augen der Kinder leuchten auf, wenn sie verstanden haben, wie sich die Ordnung durch die Struktur des Materials offenbart. Da die Demonstration des Materials ohne Worte geschieht und die Lehrerin bei der Handlung in Ruhe verweilt, lenkt sie indirekt das Kind mit seiner Aufmerksamkeit zur Konzentration auf diese Arbeit. Das Kind wird in der für es selbst geeigneten Situation diesen Anregungen spontan und ermutigt von der Aufmerksamkeit zur Konzentration folgen und mit dem Material hantieren. Es wird so lange ausprobieren, bis es den Turm zu seiner eigenen Zufriedenheit aufgestellt hat. Die Lehrerin muß dabei von sich selber absehen und das Kind durch Beobachtung und ohne eine direkte Aufgabenstellung lernen lassen.<
Die Wiederholungen der Übungen vollzieht das Kind aus eigenem inneren Antrieb, da es dem Kind um das Tun geht. Es knüpft an den bereits bekannten Erfahrungen an und ermutigt sich auf diese Weise immer wieder selbst, den zunächst verborgenen Schwierigkeitsgrad in der Struktur des Materials zu entdecken, indem es ausprobiert, welcher Kubus mit seiner Größe der nächst folgende sein kann. Durch die selbständige Entdeckung, die sich aus der Offenheit des Kindes, seiner natürlichen Neugier (Montessori 1972, S. 77) ergibt, bietet das Sinnesmaterial eine sich stetig wiederholende und neue Herausforderung. Betrachtet man die tiefe Konzentration, mit der die Kinder arbeiten, so kann man auch sagen: Sie meditieren am Material, sie widmen sich ganz der Sache.
Die sinnliche Selbsterfahrung bei dem Erfühlen der unterschiedlichen rosa Kuben und die entschlossene Wahl dieser Tätigkeit durch spontanes Handeln in der für das Kind geeigneten Situation, ermöglichen dem Kind eine Selbsterkenntnis, über das eigene Vermögen einen Turm zu erschaffen. Das Kind entdeckt im Verbunden-sein mit seiner Tätigkeit etwas in seiner Welt bisher Verborgenes, und so erweitert es das Verstehen seiner Welt und damit immer auch das Verstehen seiner selbst. Montessori betont, daß ein Kind nicht nur das Bedürfnis hat, alle Dinge zu berühren, sondern bewußt die Reihenfolge der Handlungen zu verstehen sucht (vgl. Montessori 1996, S. 172f). Die Wichtigkeit für das Handeln des Kindes liegt darin, in einzelnen Schritten die Grundlage für planmäßiges Handeln zu schaffen und auf diese Weise Konsequenzen des eigenen Tuns zu verstehen. Diese Konsequenzen liegen sozusagen mit dem Material auf der Hand und ergeben für das Lernen die Grundlage. Aus den eigenen Handlungen den Irrtum zu entdecken, etwas zu verändern, heißt, die Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen (ebd.).
So kommt das Kind zu neuen Schlußfolgerungen, die sein künftiges Handeln mitbestimmen.
Es lernt methodisch verstehen: Das Kind geht zurück zu den bereits bekannten Erfahrungen – indem es die einzelnen Kuben isoliert betrachtet, ruft sie wach und erinnert bei der Auswahl, welches der größte Kubus ist. Diesen stellt es dann in einer Weise aufeinander, indem es sich an einer Kante, die eine Linie ergibt, orientiert. Um die Abstufungen auszugleichen, bedarf es immer desselben Kleinsten (1cm3) um das Vorhandene zu korrigieren, bis es zu einem universellen Ganzen – einem "Rosa Turm" ergänzt wird.
Dies ist ein wesentlicher Erziehungsgrundsatz: Einzelheiten lehren bedeutet Verwirrung stiften. Die Beziehung unter den Dingen herstellen bedeutet Erkenntnisse vermitteln." (Montessori 1966, S. 90)
Dieses Hinzufügen zu bereits gesammelten Erfahrungen verfeinert die Sinne und ermöglicht es erst, neues Wissen in zukünftiges Handeln integrieren zu können. So verstanden, heißt lernen also auch, sich selbst neu zu erfinden. Die Voraussetzung für die Wandlung oder Bekehrungliegt folglich im Handeln des Kindes, weil es sich darin versteht. Die Bedingungen für das Selbstverstehen des Kindes sind folglich eigenständiges Handeln und Konzentration. Verkürzt ausgedrückt heißt das: Verstehen ist die Voraussetzung zur Wandlung.
Um diesen Prozeß des Lernens, der Selbstwerdung und des Unabhängigwerdens zu ermöglichen, entwickelte Montessori die Idee von der "Vorbereiteten Umgebung" als pädagogisches Prinzip. Sie ist konkret als der Lebens-, Lern- und Entwicklungsraum des Kindes vom Kinderhaus über Schule bis hin zur Universität zu verstehen.
Die vorbereitete Umgebung
Die Vorbereitung der Umgebung und die Vorbereitung des Lehrers sind das praktische Fundament unserer Erziehung (Montessori 1988, S. 21)
unter diesem Leitgedanken hat Montessori die Bereitstellung einer dem Kind angepaßten Umgebung zur Selbsterziehung des Kindes gefordert. Im folgenden fasse ich die wesentlichsten Gesichtspunkte für eine "vorbereitete Umgebung" zusammen.
Die bereitgestellten Entwicklungsmaterialien entsprechen den Hilfen, die das Kind zum Aufbau seiner Persönlichkeit in der Folge seiner spontanen Aktivität in der periodischen Sensibilität benötigt (vgl. Montessori 1988, S. 8). Zu ihnen gehören Materialien zur Entwicklung sensomotorischer Grundfertigkeiten, Entwicklungsmitteln für Sprache, Mathematik, Biologie, Geometrie usw., Übungen zur Selbstversorgung, des sozialen Umgangs, Pflanzen- und Tierpflege sowie auch Mittel für die Inhalte der üblichen Unterrichtsfächer wie Musik und Kunst. Die vorbereitete Umgebung offenbart diese Materialien in kindgerechter Anordnung, mit den dazugehörigen Hilfsmitteln zur Aufbewahrung in Schränken, Regalen oder Borden. Arbeitsutensilien aus dem Alltag wie Gartengeräte, Reinigungs- und die Haushaltsgeräte etc. sind den Kindern zugänglich untergebracht.
Die freie Wahl der Tätigkeiten bedingt eine Umgebung, in der dem Ordnungs- und Bewegungssinn des Kindes Rechnung getragen wird und in der die Dinge einen festen Ort haben, an dem sie für das Kind jederzeit auffindbar und in seiner Größe handhabbar sind. So wie es für jedes Ding einen festen Platz gibt, so haben die Kinder auch einen eigenen Tisch, einen eigenen Stuhl und ihren eigenen Platz an der Garderobe etc. Von ihrem Platz aus können sie die Gegenstände und die Räumlichkeiten überblicken und sich mit ihnen in Beziehung setzen. Die Wechselwirkung der äußeren zur inneren Ordnung ermöglicht allererst die Offenheit für die zu erfassende Sachkenntnis, z. B. das Zuordnen, Paaren oder Unterscheiden der Sinnesmaterialien; die Pflege der Blumen sowie das Putzen der Schuhe bis hin zur Pflege der eigenen Person. Eine mit Sorgfalt hergerichtete ästhetische Umgebung schafft eine vertrauenerweckende Atmosphäre. Sie gibt dem Kind die Möglichkeit sich einzuhausen in eine, an den Bedürfnissen des Kindes orientierte Umgebung. Das heißt, alle Tische und Stühle sind an einem bestimmten Platz und so beschaffen, daß ein Kind sie jederzeit selbst an einen anderen Ort bringen kann, wo sie gerade gebraucht werden und es dabei auf 'Hilfe' nicht angewiesen ist. Die Ordnung der Dinge für das tägliche Leben soll den Kindern in der Weise Orientierung bieten, daß sie sich selbst helfen können, wenn eine Vase umstürzt oder der Fußboden gekehrt werden muß.
Zudem findet das Kind nicht nur Anreize zum Handeln, sondern auch die Möglichkeiten kreativer Gestaltung, indem es die Mittel und Räumlichkeiten miteinander in Beziehung setzen kann. Es ist für das gemeinsame Zusammenwirken der Kinder von großer Bedeutung, bestimmte Aktivitäten in dafür geeigneten Räumlichkeiten auszuüben, wie z. B. ein Bewegungsspiel im Gymnastikraum, die Koordinationsübungen "auf der Linie gehen" auf der aufgeklebten Ellipse im Montessori-Raum, das Lesen in der Bücherecke, das Frühstücken im Cafè, das Geschirrspülen der Küche etc. Die Grundvoraussetzung für Ausnahmen, einer Änderung dieser Ordnung, wenn z. B. Feste gefeiert und alle Räume für dieses Ereignis geschmückt werden, ist eine Klarheit von Regeln, die mit allen Kindern gemeinsam unter Berücksichtigung aller Interessen abgesprochen werden. Es gibt Kinder, die einer geordneten Struktur dermaßen bedürfen, daß sie völlig aus dem Gleis geraten können, wenn sie morgens im Gruppenraum ihren Tisch nicht an ihrem Platz vorfinden. Das drückt aus, daß die Ordnung eines Kindes genauso geachtet werden muß, wie das Kind selbst. Auch Veränderungen, die allgemeine Dinge betreffen, sind nach allen Menschen, die diese Dinge umgeben und damit leben, zu richten. Nur so ist eine kindgemäße Umgebung zu verstehen und läßt sich auf die gesamte Umgebung, einschließlich des Umweltschutzes erweitern. Es gilt nicht sosehr die Frage danach, wie die Dinge gebraucht werden, sondern welchen Sinn sie in ihrer Vorhandenheit machen. Deshalb ist es notwendig, daß alle Dinge einen festen Platz haben, die Regel aber, wonach dieser Platz bestimmt wird, erst gefunden werden muß.
Vorbereitete Lehrerin
Zur sorgfältigen Vorbereitung der Umgebung kommt die Aufgabe der Vorbereitung der Lehrerin hinzu. Sie weiß um den Zusammenhang von Umgebung und dem Sicheinlassen des Kindes, als Bedingung für eine freie Wahl der Tätigkeit. Hierbei hebt Montessori besonders hervor, daß sie, die Lehrerin in der vorbereiteten Umgebung, sich selbst als ein das Kind umgebendes Modell im Handeln begreift. Auf diese Weise wird die Lehrerin zur Mitarbeiterin der 'geistigen' Entwicklung des Kindes und zum "Bindestrich" (Montessori1966, S. 55) zwischen dem Kind und Material, also dem Kind und seiner Welt (vgl. Montessori 1972, S. 244ff.). Montessoris Beobachtungen waren jedoch auch, daß es einem intuitiven An-Ruf des Kindes bedurfte, der mit Respekt und vor allem Liebe die Kinder 'weckt' und sie zur Arbeit ermutigt (vgl. Montessori 1969, S. 31). Mit der vorbereiteten Umgebung gestaltet die Lehrerin dem Kind ein "Zuhause", in das es sich einleben kann (vgl. Helming 1969, 17 S.). Neben der Bereitstellung entwicklungs- und kulturgemäßer Bildungsangebote, ist die Bildung der Persönlichkeit der Lehrerin für Montessori von zentraler Bedeutung. Die "neue Lehrerin" muß selbst erzogen sein denn
...statt des Redens muß sie das Schweigen lernen; statt zu unterrichten muß sie beobachten; statt der stolzen Würde dessen, der unfehlbar erscheinen will, muß sie das Kleid der Demut anlegen (Montessori 1976, S. 123).
Sie muß eine Haltung einnehmen, die der Wissenschaft gegenüber notwendig ist, sich offenhalten, Neues zu lernen. Zuerst muß die Lehrerin lernen zu beobachten, denn wer gelernt hat 'zu sehen', beginnt sich zu interessieren. Hierzu muß sie 'angeleitet' werden (a. a. O., S. 125). Eine unvoreingenommene, das Kind freilassende und somit nicht festlegende oder in eigenster Form bestimmende, genaue Beobachtung des Kindes, seine Begleitung an geeigneter Stelle, lassen allererst das Phänomen seiner Verwirklichung vom Kinde her sehen (Montessori 1996).
Die 'neue Lehrerin' soll lernen,
- das Kind in seinen Intentionen zu verstehen,
- es bei seiner spontanen Aktivität zu achten,
- seine Rechte zu respektieren und
- selbst entscheiden und lernen lassen.
Sie muß sich in der Methode üben und die Materialien und ihre Anwendung kennen.
Außerdem muß sie sich durch ihre Eigenschaften mehr auszeichnen als durch ihre Bildung (Montessori 1976, S. 125 f.). Sie soll in einer gelösten Stimmung der Heiterkeit, (wie z. B. Montessori bei ihren "Scherzen über die Null" 1928 beschrieb) das Kind zur Tätigkeit ermutigen können. Nach Montessori muß die Lehrerin lernen, als Lehrende zurückzutreten. Helene Helming drückt es in Anlehnung an Guardini wie folgt aus:
Wer etwas sehen will, muß sich selbst vergessen. So schafft er in sich Raum für das zu Sehende" (Helming 1977, S. 164).
Erst wenn die Lehrerin mit ihrer stillen Aufmerksamkeit ganz bei dem Kind ist, fühlt sich das Kind in seinem Tun wertgeschätzt und als Mitmensch angenommen. Die Lehrerin soll die Eigenschaft des Vertrauens für das Zusammenwirken mit dem Kind in seiner Umwelt erwerben und sich auf einem Niveau des Machtverzichts befinden. Nach Helming formuliert: Sie muß ihre Macht "vergessen" können (ebd.).
In der Montessori-Ausbildung wird die Einweisung in die Technik der Materialien angeboten. In praktischer Tätigkeit und Beobachtung während Hospitationen in professionellen Montessori-Klassen kann die Lehrerin erfahren, wie diese Entwicklungsmaterialien und alle Dinge dargeboten und von den Kindern zur Selbsterziehung genutzt werden. Die Lehrerin dieser Klassen dient als Modell. Inhalte der Theorie gehören ebenso zum Ausbildungsziel, wie ein von den Teilnehmerinnen eigenständig entwickeltes Entwicklungsmaterial für den täglichen Gebrauch. Die Anwendung aller dieser Materialien werden im Miteinander von Teilnehmerinnen in Kleingruppen geübt.
Montessori betont in "Schule des Kindes" (Montessori 1976, S. 123f.), daß es ein Irrtum sei, zu glauben, durch Studium und Anhäufung von Wissen allein könne sich die Lehrerin auf diese Aufgabe "vorbereiten". Die Autorin besteht mit Nachdruck darauf, daß die Lehrerin sich auch innerlich vorbereiten (Montessori 1996, S. 152) muß. Versteht man Montessori so, daß sie mit innerlich das innere Wesen des Menschen, seine Psyche meint, so ist davon auszugehen, daß die folgende Aussage ein in die Tiefenpsychologie führender Hinweis ist, wenn sie sagt:
...er [der Lehrer, C.F.D.] muß mit Beharrlichkeit und Methode sich selber studieren, damit es ihm gelingt, seine hartnäckigsten Mängel zu beseitigen, eben die, die seiner Beziehung zum Kinde hinderlich sind. Um diese verborgenen Mängel zum Bewußtsein zu bringen, haben wir Hilfe von außen nötig, bedarf es einer gewissen Weisung; es ist unumgänglich, daß jemand uns auf das hinweist, was wir in uns erkennen sollen." (Montessori, 1996, S. 153)
Auch bedarf es jemanden der "wie der Arzt dem Kranken angibt, an welchem Übel sein Organismus leidet" (ebd.) und ihm zur "erweiterten Selbsterkenntnis", der bisher "unerkannten Irrtümer" verhilft (a. a. O., S. 21). Diese Überzeugung begründet Montessori mit der Tatsache, daß der größte Irrtum der Lehrerin sei, ihre Fehler durch Einwirkung auf das Kind zu vergeistigen (ebd.). Jegliche Unterdrückung des Kindes durch den Erwachsenen wird mit einem Ausdruck von Widerwillen des Kindes beantwortet, weil es die Wahrheit kennt, so Montessori. Darum geht ihre Aufforderung: "Erkenne Dich selbst" (vgl. Montessori 1996, S. 211) an die Erwachsenen, die erst ihren Irrtum selbst verstehen müssen, um zu wissen, daß sie den Grund für das Verhalten des Kindes geben (ebd.). Montessori deutet hiermit an, das das Fehlverhalten von Kindern als eine Art der Fehlerkontrolle für ihre 'Behandlung' gelten kann! Der gleichen Auffassung ist der Individualpsychologe Alfred Adler, der ein Konzept für Beratung von Familien, Erziehern und Lehrern entwickelt hat, das sein Schüler Rudolf Dreikurs in den Sechzigern modifizierte.
Das Selbstverstehen des Kindes ist durch die von Montessori beschriebene "Polarisation der Aufmerksamkeit" (vgl. Abschnitt 1.1 und 1.5) möglich geworden. Sich ganz einer Tätigkeit hinzugeben, im Dialog mit der Wirklichkeit - und damit in Einheit mit der Welt - zu sein, nennt Montessori verstehen, und darauf folgt die Bewegung der Wandlung. Das Selbstverstehen beim Kind ist auf diese Weise möglich, und auch für die Montessori-Lehrerin kann es sich auf diese Weise ereignen.
Für die Montessori-Lehrerin ist diese Weise des Verstehens jedoch begrenzt. Während sich beim Kind das Selbstverständnis gerade bildet, so wird die Erwachsene, im Unterschied zum Kind, ihr neu gewonnenes Selbstverstehen, unter der Maßgabe des Erfolges oder Mißerfolges, in das Bewegungsgesetz ihrer Geschichtlichkeit integrieren müssen. Diese neu gewonnene Erfahrung kann das bestehende Selbstverständnis erhellen oder erschüttern. Im letzteren Fall wird dann von einer Krise gesprochen, deren positiver Aspekt die Wahrnehmung eines Widerspruchs zum gewohnten Denkmuster als eine Chance zur positiven Veränderung ist. Hier setzt die Aussage von Montessori an, die darauf hinweist, daß, soll die positive Veränderung, also die Integration der neuen Erkenntnisse, gelingen, es eines Menschen bedarf, der im Dialog hilft, diese Integration zu ermöglichen. Diese Forderung Montessoris ist ein Wegweiser für die zu leistende Psychohygiene von Menschen die in der Montessori-Pädagogik tätig sind. Ihre Nähe zu den Grundlagen Alfred Adlers werden mit dieser Forderung deutlich und sind gleichzeitig ein Qualitätsmaßstab für das Gelingen ihrer Methode. Selbstreflexion als Form der Weiterbildung ist für die gelingende Beziehungsarbeit unerlässlich. Es liegt sozusagen auf der Hand individualpsychologisch-pädagogische Beratung als eine Möglichkeit von Supervision oder pädagogischer Beratung, im Sinne von Montessoris Grundlagen, anzunehmen.
Monaddrei bietet regelmäßig Fortbildung als Einzel- und Gruppensupervision mit Fallbesprechung, sowie Familienberatung an.
Literaturliste
Helming, Helene: Montessori –Pädagogik. (4. Aufl.) Freiburg: Herder, 1969.Kramer, Rita (1987): Maria Montessori. Frankfurt, Fischer Taschenbuch Verlag (1977) 1987.
Kramer, Rita (1987): Maria Montessori. Frankfurt, Fischer Taschenbuch Verlag (1977) 1987.
Montessori, Maria (1928): Mein Handbuch. Grundsätze und Anwendung meiner neuen Methode der Selbsterziehung der Kinder. Hg. v. P. Oswald u. G. Schulz-Benesch. Freiburg i. Br.: Herder, 1966.
Montessori, Maria (1966): Von der Kindheit zur Jugend.
Hg. v. P. Oswald u. G. Schulz-Benesch. Freiburg i. Br.: Herder, 1972.
Montessori, Maria (1970): Wege der Forschung. Hg. v. G. Schulz- Benesch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1970.
Montessori, Maria (1972): Das kreative Kind. Der absorbierende Geist. Hg. v. P. Oswald u.
G. Schulz-Benesch. Freiburg i. Br.: Herder. 1972.
Montessori, Maria (1976): Schule des Kindes. Montessori-Erziehung in der Grundschule. Hg. v. P. Oswald und G. Schulz-Benesch. Überarb. Und erg. Bearb. von „Montessori- Erziehung für Schulkinder" (1926). Freiburg i. Br.: Herder, 1976 (= Schriften des Willmann-Instituts München – Wien).
Montessori, Maria (1988): Grundlagen meiner Pädagogik (1965). Heidelberg/ Wiesbaden: Quelle & Meyer, 1988.
Montessori, Maria (1989): Die Macht der Schwachen. Hg. v. P. Oswald und G. Schulz- Benesch. (= Kleine Schriften Montessori 2) Freiburg/ Basel/ Wien: Herder, 1989.
Montessori, Maria (1996): Kinder sind anders (1952).O.A. „Il segreto dell´infanzia Garzanti, Mailand (1950). (=Dialog und Praxis) Stuttgart: Klett-Cotta/ dtv, 1996.